Die Teilnehmerzahlen bei Demonstrationen sind generell ein beliebtes Thema, über das man sich tagelang streiten kann: Sympathisanten des Anliegens, für das demonstriert wurde, nennen meist sehr hohe Zahlen, die Gegner deutlich niedrigere. Kein Wunder, dass der Kampf um die Teilnehmerzahlen bei der Anti-Corona-Demo zu einem Schlachtfeld geworden ist.
Die Polizei sprach am Anfang von 10.000 Teilnehmern, später von 17.000, am Ende von 20.000, die dpa nannte 15.000 und der linke „Tagesspiegel“ begnügte sich mit 11.000. Wer den Livestream verfolgt hat, hat ganz sicher über 20.000 Teilnehmer bei der Demonstration unter dem Motto „Tag der Freiheit“ bzw. „Das Ende der Pandemie“ in Berlin gezählt. Aber dann hören die Sicherheiten schon auf… Und das auch bei den gemeinhin als alternativ bezeichneten Medien.
„Und das glaubt man gern“
Oliver Flesch (Blog „1984“) schreibt auf Facebook: „Angeblich fast eine Million Demonstranten. Ich rechnete mit 5000 bis 10 000 Teilnehmern. Da hätte ich sogar drauf gewettet, was ich glücklicherweise nicht tat, denn: Ich hätte die Wette verloren!
Wir wissen nicht, wie viele Menschen im Augenblick in Berlin demonstrieren, aber die Anzahl wird wohl sechsstellig sein. Der Zug soll 7,5 Kilometer lang sein, in den einschlägigen Livestreams fällt des Öfteren die Zahl 800.000 Teilnehmer.“
Ähnlich und mit einem bezeichnenden Zusatz „JouWatch“: „Der Veranstalter spricht von 1,3 Millionen Teilnehmern. Und das glaubt man gern“ – neben dem Glauben wird dieses Video als „Beweis“ präsentiert:
Love-Parade und Anti-Corona-Demo
Zu dem auf Twitter und Facebook weit verbreiteten Bildvergleich zwischen der Love-Parade und der Demo am Samstag hat der nun wahrlich nicht an Linkeritis oder zu großer Nähe zum System Merkel leidende Axel Reitz interessante Bemerkungen gemacht:
https://www.facebook.com/axels.studiolo/posts/1597450637104063
Kelle: 25.000 Teilnehmer
Klaus Kelle ist hier anderer Ansicht als Flesch: „Kommen wir also zu den Teilnehmerzahlen. Seit heute Morgen habe ich zwei Stunden lang Fotos und Videos von gestern aus Berlin angeschaut. Und ja, es waren viele Bürger auf der Straße. Die Polizei spricht in einer offiziellen Mitteilung von 17.000 Teilnehmern. Doch wir alle wissen, dass man das so genau nicht feststellen kann an einem Sonnentag in der Hauptstadt, wo auch viel flanierendes Publikum unterwegs ist, und wo so eine bunte und vielfältige Anti-Corona-Demo natürlich für Aufsehen sorgt.
Nach Studium der Bilder und Videos halte ich 25.000 Teilnehmer für wahrscheinlich, 30.000 für möglich. Aber Leute, mal ernsthaft: das waren nicht 100.000, nicht 800.000 und schon gar nicht 1,3 Millionen. Das Verbreiten solcher Zahlen schadet der Sache, weil jeder, der unvoreingenommen an das Thema herangeht, sehen kann, dass solche Zahlen absurd sind.“
Und Kelle ergänzt: „Der Kampf um die Zahlen – ordinär: Wer hat den Längsten? – ist ein Kampf um die Deutungshoheit. Eine Million gestern in Berlin – das wäre vorrevolutionär. Das Volk steht auf! Oder so. Aber, Freunde, das tut es gar nicht. Gehen Sie in den Aldi oder Rewe-Markt, da treffen Sie das Volk. Und es trägt Masken, hält den Abstand ein und ist froh, nicht infiziert zu sein. Wir müssen raus aus der Blase, die glaubt, automatisch immer die Mehrheit da zu finden, wo man selbst gerade steht.“
Reitschuster: Mindestens zahlreiche Zehntausend
Dem Artikel von Kelle hat Boris Reitschuster noch eine persönliche Bemerkung angehängt: „Ich war selbst auf der Demonstration und erlaube mir keine Einschätzung der Teilnehmerzahl, weil ich, was in der Natur der Sache liegt, immer nur einen Teilbereich gesehen habe. Die Authentizität des Fotos mit der vollen Straße des 17. Juni, das sich lawinenartig im Internet verbreitet, kann ich bestätigen, der Bühnenaufbau ist identisch. Was die geringe Menge von Menschen am Reichstag und Kanzleramt angeht, so handelte es sich dabei nur noch um versprengte Reste, und die Polizei hinderte die Leute, überhaupt dorthin zu gelangen (ich kam nur dank meines Presseausweises durch).
Schon recht früh, als ich da war, verweigerte man den Leuten den Zutritt zur Straße des 17. Juni. Das einzige, worauf ich mich aufgrund meiner sehr begrenzten Eindrücke in Sachen Teilnehmerzahl festlegen würde anhand dessen, was ich selbst gesehen habe: Mindestens zahlreiche Zehntausend. “
Peter Hane/Tichy: Hunderttausende
Während Peter Hahne auf Tichys Einblick meint: „Die „Straße des 17. Juni“ war von der Siegessäule bis zum Brandenburger Tor gefüllt von Demonstranten. Und zwar so dicht, dass das ja der angebliche Grund des Abbruchs war. Dazu Tausende in den Nebenstraßen oder dem angrenzenden Tiergarten. Das gleiche Foto, allein vom „17. Juni“ , wurde in den letzten Jahren so beziffert: als Fußball-Fanmeile waren es 250.000 (11. Juli 2010), beim Christopher-Street-Day (CSD 2019) über eine Million, bei Obama am 24. Juli 2008 rund 215.000 — und jetzt bei denen, die schon im Vorhinein von Medien als Rechtsextreme abgestempelt wurden, oh Wunder: 17.000 bis 20.000! Wäre ich der Papst, ich würde die zählenden Beamten der Berliner Innenbehörde sofort heilig sprechen. Das muss man angesichts der explodierenden Weltbevölkerung erst einmal hinbekommen: Hunderttausende schrumpfen zu 17.000. Ein wahrhaft epochales Wunder. Da staunen selbst angereiste Atheisten aus dem „Osten“!“
Ist die Nennung realistischer Teilnehmerzahl möglich?
Fazit: Alle der alternativen Medien sind sich einig, dass es mehr als die von der Polizei angegebenen 20.000 Demonstranten waren. Große Unterschiede bestehen aber bei den dann geschätzten Teilnehmerzahlen.
Ich unterstelle all den hier genannten Autoren, die für ihren seriösen Journalismus bekannt sind, dass es keinem darum ging, die Zahlen herunter- oder künstlich heraufzurechnen. Es scheint also tatsächlich schwer zu sein, eine konkrete Antwort auf die Frage der Teilnehmerzahlen zu geben, die der Realität zuverlässig nahe kommt.
ARD-Faktenfinder: Hohe Zahlen müssen falsch sein, da sie von Rechten kommen
Um den Humor nicht zu kurz kommen zu lassen sei schließlich noch die Einschätzung des ARD-Faktenfinders wiedergegeben, der nach Ansicht der MSM endgültig die hohen Zahlen der Veranstalter und Sympathisanten der Anti-Corona-Teilnehmer widerlegt hat. Wie hat er das nur hingekriegt? Der „Merkur“ präsentiert uns seine Lösung: „Die Facebook-Postings seien von zahlreichen Profilen und Gruppen verbreitet worden. Unter 120 von einem Datenanalysten identifizierten Gruppen und Profilen befänden sich „zahlreiche Rechtsradikale und Verschwörungsideologen“. Viele der Facebook-Profile, -Seiten und -Gruppen seien bereits wegen „der Verbreitung von gezielten Falschinformationen““ – lustigerweise konstatiert vom ARD-Faktenfinder und seinen ganzen linksradikalen Kollegen.
Für den Bericht des Merkur spreche gegen die hohen Zahlen auch die Tatsache, dass in Berlin der Verkehr nicht zusammen gebrochen sei und dass man die ZDF-Moderatorin „Dunya Hayali, die immer wieder den Diskurs mit Menschen sucht, die anderer Meinung sind als Hayali“ am Samstag auf der Demonstration „beschimpft und angefeindet“ wurde…
Zutreffend ist allerdings seine Kritik, dass nun in den sozialen Netzwerken Demonstrations-Luftbilder von zahlreichen anderen Großdemos (u.a. in Zürich) gezeigt werden und die in die Irre führende Frage gestellt wird: „Wirklich nur 17.000?“
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