Überlebender aus Be’eri versucht den Hamas-Angriff vom 7. Oktober über WhatsApp-Nachrichten zu erzählen

Zum Beitragsbild oben: Familie und Freunde nehmen im Moschaw Kfar HaRif in Südisrael an der Beerdigung dreier Mitglieder der Familie Sharabi teil (Lian, Nova und Yahel), die von Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 im Kibbuz Be’eri ermordet wurden. (Foto: Chaim Goldberg/Flash90)

Ehemaliger Kibbuz-Leiter Yaniv Hegyi startet „Gedenkstätte 710“, trägt Nachrichten, Bilder und Videos des Tages des Angriffs zusammen, um ein sekundengenaues Archiv des Massakers zu schaffen

Nachricht um Nachricht erzählen die kurzen WhatsApp-Meldungen eine ergreifende und erschreckende Geschichte näher drängenden Terrors, während Menschen immer verzweifelter um Hilfe flehen, von denen einige nur noch Minuten zu leben haben.

„Menschen dokumentierten ihre letzten Momente, sie schickten Selfies, bevor sie ermordet wurden“, sagte Yaniv Hegyi, früherer Generalsekretär des Kibbuz Be’eri.

Be’eri war bei den Hamas-Angriffen vom 7. Oktober auf Südisrael die am schlimmsten getroffene Gemeinde, an Zahl der Opfer nur noch übertroffen vom Supernova-Musikfestival. Von einer Bevölkerung von 1.100 wurden mehr als 80 getötet.

Heute leitet Hegyi ein Projekt namens „Gedenkstätte 710“, das WhatsApp-Nachrichten, Bilder und Videos zusammenstellt, die an diesem Tag verschickt wurden, um ein sekundengenaues Archiv des blutigen Angriffs zu schaffen, bei dem Terroristen die ländliche Gemeinde überrannten.

Für die verängstigten Einwohner, die sich in ihren Sicherheitsräumen versteckten, waren ihre Handys die einzige Informationsquelle und Kommunikationsmöglichkeit.

„Wo ist die Armee? Sie brechen in unser Haus ein!“, lautete eine der Nachrichten, die Hegyi AFP zeigte.

Yaniv Hegyi aus dem Kibbuz Be’eri, der von den Hamas-Angriffen vom 7. Oktober am schlimmsten getroffenen Gemeinde, am 29. November 2023 im Kibbuz Ein Gedi am Toten Meer (Foto: Gil Cohen-Magen / AFP)

„Da wird auf Arabisch geschrien… es wird viel geschossen“, heißt es in einer anderen. „Bitte kommt, es ist dringend.“

„An der Tür wird geschossen.“

In einem Fall schrieb Hegyi – der aufgrund seiner Stellung in Dutzenden WhatsApp-Gruppen ist und an diesem Tag tausende Nachrichten erhielt – zurück: „Bleibt drinnen, geht nicht raus. Jeder der das Haus verlässt, wird getötet.“

„Mami ist getötet worden“

Bei den Angriffen vom 7. Oktober durchbrachen 3.000 Terroristen aus dem Gazastreifen die Grenze über Land, über See und durch die Luft nach Israel, töteten rund 1.200 Menschen und verschleppten mehr als 240 Geiseln allen Alters unter der Deckung tausender Raketen, die auf israelische Orte und Städte geschossen wurden. Die Mehrheit der Getöteten waren Zivilisten – darunter Babys, Kinder und Alte. Ganze Familien wurden in ihren Häusern hingerichtet und mehr als 360 Menschen wurden beim Supernova-Festival im Kibbuz Re’im niedergemetzelt, viele mit entsetzlicher Brutalität.

Israelis umarmen sich zwischen Fotos von Menschen, die von Hamas-Terroristen bei deren Gewaltorgie auf dem Nova-Musikfestival in Südisrael getötet und verschleppt wurden; die Fotos sind am Veranstaltungsort aufgestellt, wo DJs Musik spielen, um des Massakers vom 7. Oktober beim Kibbuz Be’eri zu gedenken, 28. November 2023 (Foto: AP/Ohad Zwigenberg)

Kurz darauf wechselte die globale Aufmerksamkeit zu Israels Bombardierung des Gazastreifens, der nach aktuellen Angaben des von der Hamas geleiteten Gesundheitsministeriums fast 16.000 Leben gefordert hat. Diese Zahlen können nicht unabhängig verifiziert werden und es wird angenommen, dass sie Nichtkombattanten sowie Hamas-Kämpfer beinhalten, außerdem die Folgen der fehlgeschossenen eigenen Raketen der Terrororganisationen.

„Innerhalb von Tagen änderte sich das Narrativ und es ist beinahe so, als müssten wir um die Wahrheit dessen kämpfen, was passiert ist“, sagte Hegyi.

Durch „ein Wunder“ haben der 50-jährige und seine Familie überlebt. Zusammen mit vielen Überlebenden von Be’eri ist er vorläufig im Kibbuz Ein Gedi am Toten Meer untergebracht.

Er führt eine interaktive Landkarte der gesamten Gegend vor, in die die Terroristen eindrangen; dort können Forscher demnächst einen Kibbuz, ein Viertel oder ein Haus aussuchen und die damit verbundenen WhatsApp-Nachrichten, Fotos und Video vom Angriff aufrufen.

„Als ein 13-jähriges Mädchen mir eine Sprachnachricht schickte, in der sie sagte: ‚Bitte hilf mir, Mami ist getötet worden, mein Bruder ist tot und Papa ist schwer verletzt‘, dann können sie in ihren Schutzraum springen und sehen, was an diesem Tag mit ihr und ihrem Vater geschah – der weiterlebt“, sagte Hegyi.

„Sie werden durch das WhatsApp-Netzwerk von einer Stelle zur anderen gehen können und sehen, was an diesem Tag tatsächlich geschah“, fügte er hinzu.

„Das ist unsere Geschichte.“

Gräber von Einwohnern des Kibbuz Be’eri, die am 7. Oktober von Hamas-Terroristen ermordet wurden, im Kibbuz Revivim in Südisrael am 15. November 2023 (Foto: Chaim Goldberg/Flash90)

Qualvoll persönlich

Hana Brin (76), Einwohnerin von Be’eri und ehemalige Historikerin, sagte, sie stimmte zu ihre Nachrichten zu teilen, weil sie für die historische Aufzeichnung wichtig sind.

Die Sammlung der WhatsApp-Nachrichten „ist etwas ganz anderes als jede andere Dokumentation, die nach einer Woche oder zwei oder sogar ein Jahr später stattfindet“, sagte sie. „Das ist die authentischste Dokumentation, weil sie in Echtzeit ist, an dem Ort, wo alles stattfand und unter großer Belastung erfolgte“, sagte sie. „Das ist das Direkteste, was man zu dem bekommen kann, was geschah.“

Raquel Ukeles, Leiterin der Sammlungen in der Nationalbibliothek Israels in Jerusalem, die ein riesiges Archiv und eine Datenbank an Materialien zum 7. Oktober anlegt, sagte, solche Nachrichten seine „für Forscher außergewöhnlich wertvoll“.

Die Nationalbibliothek hilft bei der Erzählung und Analyse der Ereignisse und „verteidigen die historische Genauigkeit gegen Leugnung und unverschämte Behauptungen der ‚Fälschung‘“, sagte sie gegenüber AFP. „Aber das ist intensive, qualvoll persönlich.“

Bisher haben 100 Überlebende aus Be’eri zugestimmt bei „Gedenkstätte 710“ mitzumachen und Freiwillige fragen bei anderen Gemeinden nach, ob sie sich anschließen, bevor die Nachrichten im Äther verlorengehen.

Es gibt technologische Herausforderungen bei der effektiven Speicherung von Nachrichten, Bildern und Videos bei gleichzeitiger Respektierung von Privatsphäre und Vertraulichkeit. Noch schwieriger ist es Überlebende zu überzeugen ihre zutiefst persönlichen und schmerzlichen Nachrichten zu teilen – oft die letzten Worte zwischen geliebten Menschen.

„Es ist nicht leicht sie davon zu überzeugen sich dem Projekt anzuschließen“, sagte Hegyi. „Aber wenn sie es tun, dann geschieht etwas irgendwie Magisches. Wenn sie ihre WhatsApp-Nachrichten hergeben, dann tun sie etwas Proaktives, sie befreien sich von diesem Gefühl der Machtlosigkeit, das wir in den Schutzräumen alle hatten.“

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