Das andere Mal, als sie fast einen jüdischen Staat ausriefen (und niemand das mitbekam)

Im Juli 1943, mitten im Zweiten Weltkrieg, versammelten sich bedeutende Mitglieder des „Jischuw“ insgeheim in einem Vorort von Tel Aviv, um die Gründung einer jüdischen Regierung im Land Israel auszurufen.

* Gil Weissblei, the Librarians, 27. April 2020
* übernommen von Abseits von Heplev – Abseits vom Mainstream

Sitzend, von links nach rechts: Prof. Joseph Klausner, Abraham Krinitzi, Israel Rosov und Dr. Abraham Weinschal

Wenigen Menschen ist bewusst, dass der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel am 14. Mai 1948 (nach dem hebräischen Kalender der fünfte Tag des Monats Iyar im Jahr 5708) eine andere, fast geheime Feier vorausging, in der die Gründung einer jüdischen Regierung im Land Israel ausgerufen wurde. Auf viele Arten repräsentierte diese vergessene Feier ein letztes Hurra für die alte Garde der zionistischen Bewegung.

„[Britische Polizei-] Ermittler verfolgten den ganzen Tag über jeden einzelnen Schritt“, erinnerte sich in seinen Memoiren Abraham Krinitzi, einer der Organisatoren der Feier zur Ausrufung. Krinitzi, Leiter des örtlichen Rats und später legendärer Bürgermeister von Ramat Gan, einem Vorort von Tel Aviv, hatte einige Erfahrung mit der britischen Polizei. Diese hatte sogar die Siedlung, der er vorstand, als „Brutkasten des Terrorismus“ bezeichnet, eine Folge seiner Verwicklung in den Schutz des Untergrunds. Der Tag, an den Krinitzi sich erinnert, war der 25. Juli 1943 – der Tag, an dem „die Volksversammlung“ in Ramat Gan zusammentreten sollte.

„Die Volksversammlung wird pünktlich um 11 Uhr eröffnet…“ eine Ankündigung auf Hebräisch, veröffentlicht am Morgen des Ereignisses in der Zeitung HaMashkif.

Im Sommer 1943 hatten Nachrichten von der Auslöschung des europäischen Judentums begonnen das Land zu erreichen und viele in der jüdischen Gemeinschaft hatten angesichts dessen ein Gefühl der Hilflosigkeit. Neben dem Ruf jüdischer Leiter nach Kooperation mit den Briten in ihrem Krieg gegen ihren gemeinsamen Nazi-Feind kündigten die Untergrundorganisationen Haganah und Irgun eine Pause im Kampf gegen die Briten an. Die Lehi, eine weitere Gruppe, die sich von der Irgun abgespalten hatte, war damals nach dem Mord an ihrem Führer Avraham „Yair“ Stern und der Inhaftierung seines Nachfolgers an einem Tiefpunkt angelangt. Die Tatsache, dass viele Juden sich in der britischen Armee verpflichteten und bei den Kriegsanstrengungen halfen, dämpften das Gefühl von Wut und Machtlosigkeit der Juden im Mandat Palästina wegen der Schließung der Tore für jüdische Zuwanderung und die negative Haltung der britischen Regierung gegenüber jeglicher Anzeichen von Unabhängigkeit nicht.

Angesichts dieser Situation beschloss eine Gruppe altgedienter Zionisten mit jüdisch-russischem Hintergrund, die etwa zwei Jahrzehnte früher aus Führungspositionen verdrängt worden waren, zu handeln. Der „Wachwechsel“ der zionistischen Bewegung hatte der Gründergeneration keinen Raum gelassen. Sie sahen sich zunehmend an den Rand gedrängt, ganz zu schweigen davon, dass sie vom Kampf zwischen den Sozialisten und den Revisionisten betroffen waren. Die meisten Mitglieder dieser Gruppe tendierten von Natur aus auf der politischen Landkarte nach rechts und identifizierten sich eher mit einem festen und unabhängigen Ansatz gegenüber dem britischen Mandat.

Ihre Idee war einfach, wenn auch nicht völlig in der Realität verwurzelt. Die Juden Palästinas würden eine von den Institutionen der von ihnen als schwach und ineffektiv wahrgenommenen Jewish Agency unabhängige geeinte Front schaffen. Auf Grundlage relativer politischer Macht sollten die Parteien Repräsentanten wählen, die zusammen ein aus 120 Mitgliedern bestehendes hebräisches Parlament bilden sollten. Angesichts des Kriegszustands, in dem sich Großbritannien befand, und in Anbetracht der vom jüdischen Jischuw (der jüdischen Bevölkerung des Mandats Palästina) demonstrierten Loyalität glaubten sie, Großbritannien würde die Unabhängigkeit der einzurichtenden jüdischen Obrigkeit in Palästina anerkennen und ihr begrenzte Unabhängigkeit unter ihrem Schutz gewähren.

Krinitzi schrieb in seinen Memoiren, wobei er aber zuerst seine eigene Rolle als einer der Initiatoren der Idee hervorhob: „Der lebende Geist dahinter war Dr. Avraham Weinschal.“ Weinschal, ein angesehener Rechtsanwalt aus Haifa, Freund von Jabotinsky und einer der Gründer der revisionistischen Bewegung in Palästina, stellte sicher, dass sein gleichgesinnter Verbündeter und farbenfrohe Figur Dr. Wolfang von Weisl in dieses Unterfangen eingebunden war. Der Doktor, der als Offizier in der österreichischen Armee gedient hatte und einen Adelstitel trug, war zudem ein respektierter Journalist und willkommener Gast an den Höfen arabischer Prinzen, der seine umfassenden Kenntnisse der islamischen Kultur hoch schätzte.

Von Weisls mutige und draufgängerische Natur passte zu dem Plan, der anfing Formen anzunehmen. Vielleicht mehr als er gegen die britische Herrschaft rebellieren sollte, war der Plan dazu gedacht der bestehenden zionistischen Führung zu trotzen und stellte eine Art „Revolte der Älteren“ dar. Von Weisl brauchte Hilfe bei der Vorbereitung der Aktion und beim Schmieden der Verträge zwischen den verschiedenen Gruppen; für diese Aufgabe wählte er den jungen Uri Avnery aus, damals kaum zwanzig Jahre alt. Dieser sollte im Bereich des israelischen Journalismus, Aktivismus und der Politik berühmt werden.

„Die anwesenden Delegierten“

In seinen Memoiren mit dem Titel Optimistisch erzählt Avnery von seinem Treffen mit von Weisl und dessen Scheitern die breite Koalition für die Einrichtung einer „Exilregierung“ zu erzielen. Offensichtlich verhinderten Skepsis und parteiliche Spaltungen, dass die große Rebellion in vollem Ausmaß ausgeführt wurde. Zudem zwang die scharfe Kontrolle der Briten von Weisl den Schlachtplan abzumildern.

Weinschal, von Weisl und ihre Freunde beschlossen ein großes öffentliches Treffen zu veranstalten, bei dem eine „jüdische Exilregierung“ ausgerufen wird. Krinitzi bot an, in Ramat Gan Gastgeber der Versammlung zu sein, im Auditorium der Oberschule Ohel Schem, heute die Yahalom-Oberschule. Der Name dieser erlesenen Versammlung – „Volksversammlung“ – aus der heraus die Regierung gewählt werden sollte, zeigte den Wunsch einen breiten Konsens zu erzielen sowie den Wunsch nicht den Zorn der Briten zu wecken, indem Worte wie „Regierung“ oder „Parlament“ vermieden wurden.

Die Proklamation begann mit einem symbolischen Akt, der die Loyalität des jüdischen Jischuw zeigen sollte: In der Großen Synagoge von Ramat Gan hielt Rabbi Yaakov Toledano einen Gedenkgottesdienst zur Erinnerung an die aus der Gemeinschaft, die im Dienst in der britischen Armee starben. Sofort danach gingen hunderte geladene Gäste von der Synagoge zum Schulgebäude, wie die Versammlung offiziell eröffnet wurde. Aufs Podium wurden die Mitglieder des Direktorats gesetzt, darunter Prof. Joseph Klausner, Israel Rosov, Avraham Weinschal und Abraham Krinitzi. Von Weisls Name fehlte im Direktorat und auf der Liste der Teilnehmer. War es die Entscheidung, die Forderungen dieser „vorläufigen Regierung“ herunterzuschrauben, die ihn veranlasste, abzutreten?

Jahre später erinnerte sich Avnery, der wahrscheinlich der jüngste Teilnehmer war, sich daran nicht als eine außergewöhnliche historische Veranstaltung. Die langen, mit Pathos gefüllten Reden von Mitgliedern des Direktorats und anderer altgedienter öffentlicher Aktivisten machten aus der historischen Proklamation einer jüdischen Regierung ein weiteres zahnloses öffentliches Treffen. In der kleinen Broschüre mit den an dem Tag gehaltenen Reden achtete der anonyme Verleger sorgfältig darauf festzuhalten, ob eine Rede „anhaltenden Applaus“ oder „donnernden anhaltenden Applaus“ erhielt. Der junge Avnery, der sich in einer seltsamen Veranstaltung wieder fand, die von den „Ältesten der Generation“ organisiert wurde, erinnerte dieser sich daran als eine besonders glanzlose Angelegenheit.

„Eine Proklamation an das hebräische Volk in Zion und der Diaspora“ fasste „die einstimmig gefassten Entscheidungen der Volksversammlung“ zzusammen, die hauptsächlich aus Vorschlägen für weiteres Handeln bestand, die später getroffen werden sollten…

Der Text des Telegramms, das am Ende dieses Tages dem britischen Premierminister Churchill, US-Präsident Roosevelt und dem Premierminister von Südafrika geschickt wurde, verstärkt das Gefühl einer verpassten Gelegenheit, das Ergebnis fehlenden politischen Mutes. „Die Volksversammlung, die in Ramat Gan zusammentrat“, heißt es in dem Telegramm, „zieht die Aufmerksamkeit der in ihrem Kampf um die Freiheit der Völker der Welt vereinten Nationen auf die schwere Verletzung der Rechte des hebräischen Volks, verursacht durch fehlende Anerkennung des Volks Israel als Verbündetem, Partei im Kampf und gleichberechtigem Partner der anderen vereinten Nationen.“ Erst gegen Ende des Telegramms wird ausdrücklich die Forderung gestellt: „Grundlegende Gerechtigkeit erfordert die Anerkennung des Rechts des jüdischen Volks von einer vorläufigen jüdischen Regierung repräsentiert zu werden, um am Krieg teilzunehmen und Frieden aufzubauen und seine Zukunft als freie Nation in seinem Heimatland sicherzustellen.“

Avraham Krinitzi war gezwungen einzugestehen, dass die historische Konferenz nur mit Vorschlägen zum Handeln und der Wahl von Repräsentanten endete, aber ohne praktische Bedeutung . Die Tatsache hingegen, dass britische Zensur verhinderte, dass die Veranstaltung in der Presse veröffentlicht wurde, verhinderte nach seiner Aussage hingegen nicht, dass die Nachricht von ihrem Stattfinden durchsickerte. Krinitzi verwies spöttisch auf den Stromausfall, der diesem, wie die Briten es nannten, „ideologischen Terror“ auferlegt wurde und schloss: „Tatsächlich gibt es auch solche, für die eine Idee Terrorismus ist und vielleicht keine seiner weniger gefährlichen Formen. Sie sät die Samen in Herzen, in Denken. Und ich weiß aus Erfahrung: Wer den Samen einpflanzt, wird ihn auch wachsen sehen.“

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