* von Roland M. Horn
Selenksyis Holocaust-Vergleich kommt nicht gut an. denn seine Rhetorik verschleiert die Rolle, die viele Ukrainer bei der Kollaboration mit den Nazis während des Holocaust gespielt haben.
berief sich Selenskyi am 20. März 2022 in seiner Rede vor den israelischen Gesetzgebern auf den Holocaust als Analogen zu dem Geschehen in seinem Land. In seiner Videoansprache sagte er dazu:
„Ich habe das Recht auf diese Parallele und auf diesen Vergleich„.
Veidlinger weiß als als Historiker des Holocaust in der Ukraine, dass dieser Vergleich problematisch ist und betont, dass Selenksyi – schließlich spielte der ehemalige Schauspieler im Fernsehen einen Geschichtslehrer – das auch wissen müsste.
Veidlinger verurteilt den Krieg und die offensichtlich absichtlichen Angriffe auf Zivilisten und bezeichnet sie als „abscheulich“, doch er erkennt einen gewaltigen Unterschied zwischen dem Holocaust und dem Selenskyi-Vergleich. Beim Ukrainekrieg geht es wie bei den meisten Kriegen um die politische Kontrolle eines Territorium ist die Souveränität eines Volkes, jedoch ist er – ganz im Gegensatz zum Holocaust – kein Versuch, jedes einzelne Mitglied einer ethnischen, rassischen oder nationalen Gruppe zu ermorden und insofern ist – völlig im Gegensatz zu Selenskyis Behauptung – die Bedrohung nicht die gleiche.
Selenskyi hat – zumindest in der Theorie – eine Möglichkeit, die die Juden im 3. Reich nicht hatten: Er könnte schlicht die Regierungsgewalt an eine von Russland ernannte Marionette übergeben und damit seinem Volk die Möglichkeit zu geben, als ukrainische Minderheit in einem unterdrückerischen russischen Staat zu leben. Ganz sicher ist diese Wahl nicht gut – doch immerhin ist es eine Wahl. Die Juden im 3. Reich dagegen hatten keine Wahl, die zu ihrem Überleben hätte führen können – für sie gab es nur den bevorstehenden Tod.
Veidlinger sieht auch Putins Rolle als bedenklich, der sich ebenfalls auf den Holocaust berief, als er bei seinem Einmarsch in die Ukraine, den Grund für diesen Feldzug seine Absicht nannte, das Land zu entnazifizieren. Veidlinger bezeichnet auch dies als unseriös, da die Ukraine ein freier und demokratischer Staat ist, dessen Regierung vom Volk gewählt ist.
Hier muss man jedoch anmerken, dass Putins Behauptung, die Ukraine würde zum Teil von Neonazis regiert, nicht ganz aus der Luft gegriffen ist. So waren am Maidan-Putsch zumindest zwei (größere) rechtsradikale Gruppierungen beteiligt, der Rechte Sektor, der sowohl als paramilitärische Organisation als auch als politische Partei auftritt. Sie hatte großen Anteil am Putsch und trat später als Partei (Swoboda) auf. Bei der Parlamentswahl 2019 scheiterte die Partei jedoch an der Fünf-Prozent-Hürde und ist seither nicht mehr im Parlament vertreten. Ganz anders das Asow-Regiment, das als ultranationalistisch bis rechtsextrem gilt. Es ist immer noch Teil des ukrainischen Militärs und untersteht dem Innenministerium. Dem Regiment gehören geschätzt 1.000 bis 2.000 Kämpfer an. Wenn das auch anteilsmäßig wenig sind, gehören sie zu den mehreren Hunderttausend Soldaten und Freiwilligen, die derzeit die Ukraine verteidigen.
Die Asow-Bewegung ist Teil eines globalen rechtsextremen Netzwerks, dem auch in Deutschland „Der III. Weg“ angehört – eine Partei, die noch weit rechts von der NPD angesiedelt ist. Die Mitglieder der Asow-Bewegung lassen sich nicht ungern mit rechtsextremen Tattoos und Symbolen fotografieren und die Uniformen des Regiments sind mit dem Wolfsangel-Logo versehen, das auch von der SS im nationalsozialistischen Deutschland verwendet wurde. Kacper Rekawek vom Zentrum für Extremismusforschung der Universität Oslo sieht allerdings Russlands Taktik als ziemlich heuchlerisch an, da es im Russland viel mehr Neonazis gäbe als in der Ukraine. Rekawek sagt:
„Würde es ‚Asow‘ nicht geben, hätte Russland es erfunden,„
meint er. Tatsache ist aber, es gibt Asow und ob Russland – wenn dem nicht so wäre – es tatsächlich erfunden hätte, ist eine reine Spekulation.
Dass der Holocaust in der Ukraine eine große Resonanz findet, ist kein Wunder, erklärt Veidlinger, denn über ein Viertel der jüdischen Opfer des Holocaust wurden auf ukrainischem Territorium getötet. Das sind ungefähr 1,5 Millionen Menschen. Auch Millionen von nichtjüdischen Ukrainern starben unter der Besatzung durch Hitlerdeutschland: Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, Soldaten, Partisanen und einfache Bürger und Bauern.
Selenskyi forderte Israel dazu auf, der Ukraine mehr militärische Hilfe zu leisten und vom israelischen Volk verlangte er, eine Wahl zu treffen – genauso wie die Ukrainer vor 80 Jahren ihre Wahl getroffen hätten.
2.673 Ukrainer wurden dafür ausgezeichnet, damals Juden gerettet zu haben. So rühmte sich Selenskyi in seiner Rede, dass „die Gerechten unter den Völkern unter uns sind“. Freilich wird mit dieser Aussage verschleiert, dass weitaus mehr Ukrainer eine gewichtige Rolle bei bei der Kollaboration mit Nazideutschland und der Erleichterung der Ermordung ihrer jüdischen Nachbarn gespielt haben.
„Die Deutschen wussten, dass die Ukraine ein fruchtbarer Boden für ihren Vernichtungsplan sein würde. Wie ich in meinem kürzlich veröffentlichten Buch „In the Midst of Civilized Europe: The Pogroms of 1918-1921 and the Onset of the Holocaust“ zeige, hatten Ukrainer, die sich der bolschewistischen Herrschaft widersetzten, nur 20 Jahre zuvor Zehntausende ihrer jüdischen Nachbarn ermordet. Die Juden und die Bolschewiki, so hatten sie fälschlicherweise behauptet, seien ein und dasselbe,„
erklärt Veidlinger. Auch damals ging es schon um das Thema „ukrainische Staatlichkeit“. Die nämlich versprach Hitlerdeutschland (höchstwahrscheinlich fälschlicherweise) für den Fall, dass die Ukrainer Nazideutschland half und so halfen in Lemberg, der ersten von Nazideutschland besetzten ukrainischen Stadt, rekrutierte Ukrainer: Sie trieben Juden zusammen und warfen sie in die Menge, schlugen Juden zusammen, töteten Juden und schlugen sie auf der Straße zu Tode, wie ein Zeuge berichtet.
„Im Juli 1941 töteten deutsche Spezialeinheiten in Zusammenarbeit mit ukrainischer Hilfspolizei und Miliz zwischen 2.000 und 5.000 Juden in der Stadt,“
schreibt Veidlinger, um weiter darauf hinzuweisen, dass sich ähnliche Szenen an anderer Stelle wiederholten. Hinsichtlich der im ersten Monat der deutschen Invasion in der Ukraine in Ostgalizien und West-Wolhynien getöteten zwischen 12.000 und 35.000 Juden, sagt ein Zeuge:
„Diejenigen, die geschossen haben, und diejenigen, die die Verhaftungen durchgeführt haben, und diejenigen, die diese Gräueltaten ausgeführt haben, waren keine Deutschen; das war die örtliche ukrainische Polizei.„
Als Nazideutschland weiter nach Osten in die Ukraine vordrang, verstärkten sich die Massaker. Viele Juden wurden – wieder mit tatkräftiger Hilfe ukrainischer Kollaborateure – nackt ausgezogen und in Schluchten und Gräben erschossen, darunter auch Frauen und Kinder. Die Einheimischen durften anschließend die Kleidung der Toten plündern. 1.000 derartige Stätten in der Ukraine wurden identifiziert, von denen die größte Babyn Yar in den Vororten von Kiew war, wo vom 29. bis zum 30. September 1941 mehr als 33.000 Juden getötet wurden.
Nach einer ersten Tötungswelle während des Vormarsches der nazideutschen Truppen war es das deutsche Militär, das ungefähr 250 Ghettos in der Ukraine einführte und von den Juden verlangte, Armbinden mit dem berüchtigten gelben Stern zu tragen. Aber: Durchgesetzt wurden die Vorschriften durch die ukrainische Polizei. Bis zum Frühjahr 1942 wurden die meisten Ghettos liquidiert und weitere 500.000 Juden ermordet. Bis zu diesem Frühjahr waren – noch bevor die meisten Vernichtungslager in von Deutschland besetzten Polen in Betrieb gingen – fast zwei Drittel der Juden in Gebieten, die heute zur Ukraine gehörten ausgerottet worden.
Veidlinger sagt:
„Vor Gesetzgebern auf der ganzen Welt hat Selenskyi wiederholt versucht, traumatische Momente in der Geschichte jedes Landes hervorzurufen – den Londoner Blitz in seiner Rede vor dem britischen Parlament, 9/11 und Pearl Harbor in seiner Rede vor dem US-Kongress und die Berliner Mauer in seiner Rede zum Deutschen Bundestag.„
Es sei verständlich, dass Selenskyi alle Bezugspunkte nutze, von denen er glaube, dass sie seinem Land helfen, und es sei auch wahr, dass Juden wie Selenskyi selbst, die hinter dem eisernen Vorgang aufwachsen sind, diese Geschichte nicht auf die gleiche Weise oder auf der gleichen Zeitachse gelernt hätten wie Juden, die im Rest der Welt lebten.
„Und ich sympathisiere mit der Idee, die von israelischen Führern geäußert wurde, um Kritik an Selenskyj nach seiner Rede zurückzuweisen, dass wir alle gegenüber einem Weltführer in einer Situation, in der es um Leben und Tod geht, etwas Nachsicht entgegenbringen können„,
sagt der Historiker, um aber mit folgenden Worten zu schließen:
„Trotzdem zählt Selenskyjs Stimme. Und wenn er Unwahrheiten über den Holocaust äußert, ist es wichtig, sie nicht auf sich beruhen zu lassen.“