Die Grenze zwischen Beleidigung und Kritik war bisher alles andere als fließend. Das eine war ein justiziabler Akt, das andere die Bewertung eines Zustands oder Vorgangs. Gott sei Dank, müssen wir da jetzt nicht mehr so streng sein. Seit dem 3. April ’21 gilt der neue Paragraph 188 StGB. Er hat ein Mandat im „Kampf gegen Rechts“ und bedeutet, dass man für als Beleidigung ausgelegte Regierungskritik eine Haftstrafe riskiert. Er ist ein Kind links-grüner Politik.
Wenn Joschka Fischer als Urgrüner heute seinen berüchtigten Satz „Mit Verlaub Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch“ sagen würde, würde er heute damit eine Haftstrafe riskieren. Das ist eine besonders bemerkenswerte Variante von „Die Revolution frisst ihre Kinder“. Die Grünen von heute würden die Grünen von damals womöglich vor Gericht bringen.
Der Paragraph im Wortlaut:
§ 188 StGB
Gegen Personen des politischen Lebens gerichtete Beleidigung, üble Nachrede und Verleumdung
(1) Wird gegen eine im politischen Leben des Volkes stehende Person öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten eines Inhalts (§ 11 Absatz 3) eine Beleidigung (§ 185) aus Beweggründen begangen, die mit der Stellung des Beleidigten im öffentlichen Leben zusammenhängen, und ist die Tat geeignet, sein öffentliches Wirken erheblich zu erschweren, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe. Das politische Leben des Volkes reicht bis hin zur kommunalen Ebene.
(2) Unter den gleichen Voraussetzungen wird eine üble Nachrede (§ 186) mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren und eine Verleumdung (§ 187) mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
Bemerkenswert ist, dass im Paragraph noch „Volk“ und nicht „Staatsvolk“ steht. Da muss noch nachgearbeitet werden, ansonsten wäre das rechts. Aber was hier verklausuliert steht, ist, dass eine öffentlich geäußerte Kritik angeklagt werden kann. Wenn sie als Beleidigung definiert wird, muss der Ankläger ins Gefängnis. Wer bitte möchte eine Regierung kritisieren, die die Deutungshoheit über die Kritik an ihr hat?
Oder anders gefragt: Warum war dieser Paragraph 188 StGB bis 2021 nicht nötig? Er ist im Geiste aus der DDR abgeschrieben. Allenthalben hört man Umfragen, dass das Misstrauen gegen die Demokratie steige oder ähnlichen Unsinn. Nein, das Misstrauen in die Regierung steigt. Niemand bei Sinnen stellt die Demokratie in Frage oder die Gewaltenteilung, also den Staat. Man stellt die Leistungsfähigkeit der Regierung des Staates in Frage. Und wenn die niedrig genug ist, dann wird Kritik an ihr kriminalisiert.
Diese Umfragen sind absichtlich falsch gestellte Fragen. Wie würde jemand antworten, den man fragt: „Halten Sie die Demokratie für ein leistungsfähiges System“ und wie würde derselbe Mensch antworten, den man fragt: „Halten Sie die Regierung unseres Staates für leistungsfähig?“ Die meisten Menschen sind nicht besonders tief im Politischen drin. Gehen Sie einmal auf die Straße und fragen Sie: „Wer oder was ist ein Plenum?“. Wer merkt, dass seine Kaufkraft abnimmt und dass er schlechter als früher dasteht, der macht dafür entweder seine eigene Leistungsfähigkeit oder „den Staat“ verantwortlich. Was er aber semantisch sauber getrennt meint, ist: „Die Regierung“.
Wer im „Kampf gegen Rechts“ – und das „gegen Rechts“ sind alle Liberalen und Konservativen –ausnutzt, dass viele Menschen Demokratie, Staat und Regierung nicht recht auseinander halten können, weil sie ihren wirtschaftlichen Status in Abhängigkeit von dem sehen, was über sie entschieden wird, der missbraucht eine unbedarfte Gutgläubigkeit. Von linker Seite heißt es dann, es gäbe Zweifel an der Demokratie. Nein, die gibt es unter vernünftigen Leuten nicht. Es gibt begründete Zweifel an der Regierung, ihren Amtseid zu erfüllen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden und dessen Wohlstand zu mehren. Und diese will Kritik an der Mangelerfüllung dieses Auftrages delegitimieren, indem sie sie Beleidigung nennt. Dieser Paragraph 188 StGB ist ein Angriff auf die Freiheit der demokratischen Tradition des audiatur et altera pars.
Vielleicht gibt es in einer gesunden Demokratie so etwas wie das Privileg des unangemessenen Vergleiches. Die Freiheit eines unreif ausentwickelten Gedankens, gegossen in ein gesprochenes Wort. Das darf nicht gleich den sozialen Tod nach sich ziehen. Vielleicht gibt es in einer gesunden Demokratie eine gewisse Schweizer Gelassenheit gegen Dampfplauderer und Heißsporne. In einer gesunden Demokratie gibt es aber vor allem das Streben, sich empor zu irren und an einer andern Meinung die Bereicherung über den eigenen Horizont zu schätzen, wenn sie denn qualifiziert argumentiert. Die auslegbare Strafbarkeit einer überhitzten Äußerung ist jedenfalls der Tod dieser Idee.
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Zum Autor: Aljoscha Harmsen studierte Geschichte, Sprach- und Literaturwissenschaften und arbeitet als freier Autor u.a. für die Neue Züricher Zeitung.
Zur Geschichte des § 188
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(Quelle Beitragsbild: (c) Screenshot YT (nach PP))