Zum Beitragsbild oben: Tasnim News Agency CC-BY 4.0 via Wikimedia Commons
Als wir unten im Bunker saßen, konnten wir nicht ahnen, wie erfolgreich unsere Luftabwehr sein würde. Für die auf Israels Vernichtung zielenden Fanatiker in Teheran war die letzte Nacht ein peinliches Desaster.
Gegen zwei Uhr Morgens weckt uns die Sirene. Sie hat wirklich einen unangenehmen, an den Nerven zerrenden Ton. Das Geheul der Schakale am Abend klang nett dagegen. Also schnell auf, das mobile Telephon gegriffen und hinab in den unterirdischen Raum unseres Hauses. Er ist nicht ganz vorschriftsmäßig, ohne Stahltür und eisernes Schiebefenster, die Kommission des Heimatschutz-Ministeriums würde ihn nicht durchgehen lassen. Aber er hat die verstärkten Wände, die doppelte Decke aus Stahlbeton, die ausreichen sollen, im Notfall die Trümmer unseres Hauses zu tragen und uns davor zu schützen, unter ihnen begraben zu werden.
Auf dem Weg ins Unterirdische sehe ich durch eins der großen Fenster im Erdgeschoss den Himmel voller leuchtender Punkte, die sich rasch bewegen, und denen andere leuchtende Punkte vom Boden aus entgegenkommen, gelegentlich treffen zwei aufeinander, dann gibt es ein größeres Aufleuchten, eine Art Explosion, und die beiden Punkte, die sich getroffen haben, erlöschen, verschwinden im Dunkel der Nacht. Dieses Spiel der Lichtpunkte hat durchaus etwas Unterhaltsames. Bleibe ich wirklich stehen, von meiner unheilbaren, infantilen Neugier ergriffen, und sehe ein paar Sekunden zu? Nach außen verkleide ich diese kindische Begierde in die Frage an meine Frau, ob ich nicht schnell, auf dem Weg in den Schutzraum, den Teekessel aufsetzen und uns, „falls es länger dauert“, ein heißes Getränk, sagen wir eine Tasse Kakao, zubereiten soll.
Meine Frau lehnt höflich ab. Sie ist bereits am Fuß der Treppe und mit ihrem Telefon beschäftigt, und da habe ich, wie ich aus leidvoller Erfahrung weiß, für die nächste halbe Stunde kaum Hoffnung auf ihre Aufmerksamkeit. Ich sorge noch dafür, dass sie bequem sitzt, indem ich ihr einen der beiden Schreibtischstühle zuschiebe, dann schalte ich den Computer ein und lese die E-Mails. Darunter diese von einem Leser aus Bayern: „Lieber Herr Noll, mit Bedauern stelle ich fest, keinen weiteren Artikel von Ihnen auf Achgut zu dem Krieg, den Israel gegen die Hamas kämpft, gefunden zu haben. Ihre Stimme hat mir stets die Möglichkeit gegeben, meine Sicht der Dinge in Richtung Antisemitismus und Israel einer Feinjustierung zu unterziehen.“
Für die auf Israels Vernichtung zielenden Fanatiker in Teheran war die letzte Nacht ein peinliches Desaster
Ja, vielleicht sollte ich wirklich mal wieder was für Achgut schreiben. Doch zuerst muss ich an die Veranstalter in Wien schreiben wegen der geplanten Veranstaltung im Mai, wobei mich der Gedanke streift, ich werde vielleicht gar nicht nach Wien kommen. Die Islamische Republik Iran hat Israel ernsthafte Vergeltung angekündigt. Fürs erste ist „der israelische Luftraum geschlossen“, wie wir gestern Abend aus einer Mitteilung des „Homefront Command“ der Armee erfahren haben. Wie uns später mitgeteilt wird, sollen es genau 331 Flugkörper gewesen sein, die das vom Iran aus Richtung Israel abgeschossen wurden: „Iran launched 185 drones, 36 cruise missiles and 110 surface-to-surface missiles as part of the unprecedented attack on Israel; besides the U.S, Britain and Jordan also helped Israel intercept the launches.“
Jordanien hat für das Eingreifen seiner Luftwaffe bereits eine Abmahnung aus Teheran erhalten: Sollte die Luftwaffe des arabischen Landes, das unliebsam im Weg liegt, weiterhin seinen und damit auch Israels Luftraum schützen, könnten sie „die nächsten“ sein. Aber es ist seltsam: Die Drohung hat im Verlauf der letzten Stunde viel von ihrem Schrecken verloren. Denn von den 331 auf Israel abgeschossenen Raketen, Drohnen und Marschflugkörpern sind nur 3 wirksam auf israelischem Gebiet eingeschlagen. Eine erreichte fast die Luftwaffenbasis in Nevatim, ganz bei uns in der Nähe, die man gern getroffen hätte. Amina al-Hassouni, ein Beduinenmädchen in einer der „wilden“, ungeschützten Siedlungen in der Wüste zwischen unserem Ort und Arad, wurde verletzt und musste in der Universitätsklinik in Beer Sheva operiert werden. Mehr Schaden haben die 331 Raketen, Drohnen und Marschflugkörper des gefürchteten iranischen Regimes nicht anrichten können.
Das kann man nicht erfolgreich nennen. Im Gegenteil: Für die auf Israels Vernichtung zielenden Fanatiker in Teheran war die letzte Nacht ein peinliches Desaster. Statt dessen haben sich die israelischen Abwehrsysteme grandios bewährt. In den Videos, die ich bisher gesehen habe, verblüfft die Sicherheit der israelischen Abwehrraketen, die tatsächlich so gut wie jedes ihrer Ziele präzise vom Himmel holten. Man glaubt fast nicht, dass es reales Geschehen ist, es wirkt wie ein Computerspiel. Auch das fabulöse System „Iron Beam“ soll erfolgreich zum Einsatz gekommen sein, das erste Raketenabwehrsystem der Welt, das alle Arten Geschosse mit Laserstrahlen abschießt. Diese Information wird von der Armee nicht bestätigt, sie kursiert in den sozialen Netzwerken und ist – wie alles dort – mit Vorsicht zu genießen. Auch eine weitere Nachricht: Bereits in den Morgenstunden soll eine Flut von Aufträgen und Anfragen aus aller Welt bei den israelischen Rüstungsfirmen eingegangen sein, die jene Abwehrsysteme herstellen.
Eine eigene Raketen-Niederlassung in Indien
Diese Nachricht wirkt glaubhaft, wenn man von den enormen Auftragseingängen der letzten Monate weiß. Die Israel Aerospace Industries sind, wie ihr Vorstand kürzlich bekanntgab, mit Aufträgen aus dem Ausland überhäuft. Die Gewinne seien 2023 gegenüber dem Vorjahr um 49% gestiegen. „IAI employees“, schrieb die Zeitung Yediot Acheronot, „made great efforts to meet demands of Israel’s security needs and no less to work for our customers abroad“. So sei die Nachfrage aus Indien dermaßen groß, dass die Israel Aerospace Industries dort eine eigene Niederlassung installieren müssen. Auch die Rafael Advanced Defense Systems melden Rekord-Verkäufe von 14 Milliarden Shekel (etwa 3,5 Milliarden Euro), einen Anstieg um 21% verglichen mit dem Vorjahr. „The company’s orders for the year totaled NIS 52 billion, up by 47% from the previous year, with 57% of the orders coming from international clients.“ Solche Gewinne sorgen dafür, dass die Einbußen, die Israels Wirtschaft an anderer Stelle durch den Krieg erleidet, mindestens ausgeglichen werden. Der Krieg wird Israel keinesfalls, wie die Strategen in Teheran und anderswo hoffen, wirtschaftlich ernsthaft schaden.
Wäre nicht die kleine Amina schwer verletzt worden, könnte man den Angriff heute Nacht fast für einen dummen Scherz halten: weil er so blamabel danebenging. Weil mit so viel Getöse, Hass-Rhetorik und böser Absicht, mit so viel technischem Aufwand und Material fast nichts erreicht wurde. Ich gestehe, dass ich einen Augenblick besorgt war, als ich den Himmel voll leuchtender Punkte sah – allesamt Raketen, Drohnen und Marschflugkörper in fraglos tödlicher Absicht. Als wir unten im Bunker saßen, konnten wir nicht ahnen, wie erfolgreich unsere Luftabwehr sein würde. Wir haben uns angewöhnt, nach dem Desaster vom siebenten Oktober nicht mehr so recht an unsere Siege zu glauben.
In Wahrheit hatten wir diesmal nichts zu fürchten. Meine Frau trug einen langen gelben Umhang und einen Halskragen aus weißem Kunstpelz, denn die Nächte sind hier in der Wüste immer noch kühl. Sie zeigte sich entschlossen, ihre Eleganz auch unter diesen Umständen zu bewahren. Sie war es auch, die auf ihrem Smartphone die Nachrichten las und mir das Nötige mitteilte. Mich hatte die Mahnung des Lesers aus Bayern beeindruckt, ich sollte mal wieder etwas für Achgut schreiben. Ich fing gleich im Luftschutzraum damit an. Bitte, hier bin ich wieder, noch am Leben, in bester Stimmung nach Israels Erfolg in dieser Nacht.
Chaim Noll wurde 1954 unter dem Namen Hans Noll in Ostberlin geboren. Sein Vater war der Schriftsteller Dieter Noll. Er studierte Kunst und Kunstgeschichte in Ostberlin, bevor er Anfang der 1980er Jahre den Wehrdienst in der DDR verweigerte und 1983 nach Westberlin ausreiste, wo er vor allem als Journalist arbeitete. 1991 verließ er mit seiner Familie Deutschland und lebte in Rom. Seit 1995 lebt er in Israel, in der Wüste Negev. 1998 erhielt er die israelische Staatsbürgerschaft. Chaim Noll unterrichtet neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit an der Universität Be’er Sheva und reist regelmäßig zu Lesungen und Vorträgen nach Deutschland. Zuletzt erschien von ihm in der Achgut-Edition: Der Rufer aus der Wüste – Wie 16 Merkel-Jahre Deutschland ramponiert haben. Eine Ansage aus dem Exil in Israel.
(Erstveröffentlicht bei der Achse des Guten)