„Gerd, was sagst Du eigentlich dazu, was gerade in Israel passiert?“
Diese Frage bekomme ich in letzter Zeit öfter gestellt. Nun, was soll ich dazu sagen? Ich vertraue meinen Freundinnen und Freunden in Israel voll und ganz und bin mir sicher, wenn sie etwas nicht brauchen, dann weitere Ratschläge aus Deutschland, denn Ratschläge sind auch Schläge. Da mich aber meine Freundinnen und Freunde in Deutschland fragen, möchte ich ihnen eine Antwort geben.
In einer durch Gewaltenteilung strukturierten Gesellschaft kann es immer wieder passieren, dass sich die Judikative gesetzgebende Kompetenzen anmaßt. Für gewöhnlich verhindert eine Verfassung so eine Anmaßung, weil von einem Obersten Gericht erwartet wird, ausnahmslos nach den Worten der Verfassung zu urteilen. Da es in Israel aber „nur“ ein Grundgesetz gibt, passiert es dort öfter, dass sich die Judikative die Aufgabe der Legislative anmaßt und das, so behauptet es die aktuelle israelische Regierung, soll durch die Reform der Exekutive beendet werden.
Auch in Ländern mit einer Verfassung kann eine gesetzgebende Anmaßung durch das Oberste Gericht passieren. Ein aktuell bekanntes Beispiel ist die Abtreibungsdebatte in den Vereinigten Staaten von Amerika rund um die Grundsatzentscheidung „Roe v. Wade“ zum Abtreibungsrecht, die der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten am 22. Januar 1973 fällte und das im Jahr 2022 vom Obersten Gericht wieder gekippt wurde. Es war klar, dass diese Entscheidung des Obersten Gerichtes irgendwann einmal fallen würde, da sich das Gericht mit dieser Entscheidung ebenfalls eine Kompetenz der Legislative angemaßt hatte. In der US-Verfassung steht nun mal nichts über Abtreibung, aber darüber, dass die Bürgerinnen und Bürger der Staaten in allen Dingen, die durch die Verfassung nicht geregelt werden, selbst und ohne Einfluss vom Bund entscheiden dürfen und eigentlich sogar müssen.
„Roe v. Wade“ war somit eine Anmaßung des Supreme Court und musste unweigerlich irgendwann fallen. Wenn man will, dass das Oberste Gericht über etwas entscheidet, muss die Legislative die Gesetze dazu in die Verfassung bringen. Versuche dazu werden im Fall der Abtreibung in den USA immer wieder unternommen.
Auch beim Bundesverfassungsgericht in Deutschland passiert es immer mal wieder, dass deutsche Politiker, die für eine Sache keine Verantwortung übernehmen wollen, das Problem einfach zum Verfassungsgericht wegschicken, um sich so der politischen Verantwortung zu entledigen. Nicht selten spielt das Bundesverfassungsgericht den Ball jedoch zurück und erklärt: Das müsst ihr entscheiden, nicht wir.
Das Bundesverfassungsgericht wacht über die Einhaltung des Grundgesetzes und das gilt vor allem für die Durchsetzung der Grundrechte. Das Bundesverfassungsgerichts kann zum Beispiel ein neues Gesetz für verfassungswidrig erklären. Es ist aber kein politisches Organ. Sein Maßstab ist allein das Grundgesetz. Fragen der politischen Zweckmäßigkeit dürfen für das Gericht keine Rolle spielen.
Wenn aber das Oberste Gericht die Bälle nicht zurückspielt und stattdessen die Aufgaben übernimmt, die eigentlich der Legislative vorbehalten sind, kann es zu Spannungen kommen. Wenn das Verfassungsgericht immer wieder die Arbeit des Gesetzgebers und der Regierung (Exekutive) torpediert und es zudem keine Verfassung gibt, die dem Gericht die Schranken setzt, droht eine Aushöhlung der Gewaltenteilung durch eben diese Anmaßung der Judikative. Dass die Exekutive in so einem Fall versucht, die Übergriffigkeit der Judikative einzuschränken, ist nachvollziehbar. Durch diese Einschränkung jedoch maßt sich die Exekutive wiederum die Kompetenz der Rechtsprechung an und das führt dann verständlicherweise wieder zu der Kritik derer, die in Opposition zu der aktuellen Regierung stehen.
Das ist das Problem, in dem sich Israel gerade befindet. Wenn man mich also fragt, wie ich zu der ganzen Situation stehe, kann ich sagen, dass ich die Kritik auf beiden Seiten nachvollziehen kann. Ich kann jedoch nicht nachvollziehen, warum diese Debatte so emotional geführt wird.
Nein, in Israel steht nicht der Rechtsstaat auf dem Spiel!
In Israel stehen sich zwei Seiten unversöhnlich gegenüber und sie haben aufgehört, sich verstehen zu wollen. Sie vertrauen sich auch nicht mehr, sondern glauben, dass es der anderen Seite nur darum geht, die Rechtsstaatlichkeit aufzulösen. Dem ist aber nicht so. Beiden Seiten wollen aus ihrer Perspektive den Rechtsstaat schützen. Deswegen will die eine Seite neue Gesetze verabschieden und die andere Seite kritisiert eben jene neuen Gesetze.
Es ist völlig akzeptabel, dem politischen Gegner vorzuwerfen, dass er falsch liegt. Wenn wir aber anfangen, dem politischen Gegner vorzuwerfen, dass er böse ist, wird aus einer politischen Auseinandersetzung eine gefährliche gesellschaftliche Spaltung.
Die Frage, ob etwas richtig oder falsch ist, wird in Debatten geklärt, durch Wahlen und Demonstrationen. Das Böse aber wird mit Gewalt bekämpft.
Wer seinen politischen Gegner verteufelt, öffnet damit die Tür zur Gewalt als mögliche Alternative. Wer den Gegner zu einem Bösewicht erklärt, möchte damit den Boden der politischen Debatte verlassen, um frei von einer Gewaltenteilung zur Gewalt greifen zu können.
Deshalb kritisiere ich unabhängig von dem, was ich für richtig und falsch, besonders ein Verhalten, dass den politischen Gegner zum Bösewicht erklärt. Da dies in den letzten Jahren besonders oft mit Netanjahu gemacht wurde, geht meine Kritik zunächst an all jene, die mit Diffamierung und Dämonisierung das politische Klima vergiften. Letztens las ich folgenden Satz auf Twitter:
„Wenn sich die Rechtsextremen an Netanjahus Seite durchsetzen, scheidet Israel aus den Reihen der liberalen Demokratien und ist nicht mehr Teil des Westens.“
Mir machen die Gegner Netanjahus, die sowas sagen, mehr Angst als Netanjahu selbst. Wer glaubt, dass es um nichts geringeres geht, als um den Kampf gegen das Böse und darum, das Ende der liberalen Demokratie zu verhindern, der ist bereit, zu eben jenen Mittel zu greifen, die die meisten Verfassungen für so einen Fall vorsehen. Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zum Beispiel erlaubt mit dem zweiten Verfassungszusatz allen Bürgerinnen und Bürger die Bewaffnung, damit sie sich gegen böse und übergriffige Entwicklungen innerhalb der eigenen Regierung notfalls auch mit der Waffe verteidigen können. Auch das Grundgesetz Deutschlands erlaubt für einen solchen Fall die Nutzung von Gewalt und zwar in Form des Widerstands. Im Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetz steht:
“Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“
Ich mahne daher immer zur Vorsicht, den politischen Gegner vorschnell zu einem Verfassungsfeind zu erklären, denn damit rechtfertigt man den Einsatz von Gewalt, sollten diese zu Feinden der Verfassung erklärten Personen mal an die Hebel der Exekutive gelangen.
Genau das ist der Grund, warum es nicht nur in Israel, sondern mittlerweile in vielen anderen Ländern zu so viel Gewalt kommt. Viele Menschen können es nicht mehr ertragen, dass die politischen Gegner auch mal an die Hebel der Macht kommen, weil sie nicht mehr als Gegner sehen, sondern als Feinde. Im Brustton der selbstergriffenen Überzeugung brüllen sie, dass durch den Wahlsieg der andren Seite, nicht mehr der Gegner gewonnen, sondern der Feind gesiegt hat. Dieser Feind wird als so gefährlich und als so böse wahrgenommen, dass man ihm nicht mehr zum Wahlsieg gratuliert kann, um dann in die politische Arbeit der Opposition zu gehen und auf die nächste Wahl zu warten, nein, dieser Feind ist so gefährlich, dass er jenseits der Gewaltenteilung mit der Gewalt des Widerstands entfernt werden muss.
Diese Dämonisierung ist das eigentliche Problem unserer Zeit, denn sie produziert Spaltung.
Diese Spaltung zu überwinden, ist eine mehr notwendige Aufgabe. Sie beginnt damit, dass wir alle endlich wieder auf unsere politischen Gegner zugehen und zwar auf jene Gegner, die mittlerweile nicht selten zu unseren Feinden erklärt wurden. Wir müssen zu jenen gehen, mit denen man angeblich nicht reden darf, um dann eben doch einfach mal mit ihnen zu reden und ihnen zuzuhören, ganz so, als seien sie nicht böse, sondern einfach nur Menschen mit einer anderen Meinung, eine anderen Überzeugung oder einer anderen Religion; denn oft sind jene Menschen, die uns als Feinde eingeredet wurden, nichts anderes als genau das, Menschen mit einer anderen Sicht auf die Dinge.
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