Warum die „Angemessenheits“-Doktrin reformiert werden musste

Quelle Beitragsbild oben: Screenshot aus YouTube: Esther Hayut, Präsidentin des Obersten Gerichts von Israel

„Angemessenheit“ ist eine Doktrin, die vom Richter am Obersten Gerichtshof Aharon Barak als Teil der „Verfassungsrevolution“ geschaffen wurde. Sie hat keine Grundlage in israelischen Gesetzen.

In den letzten Wochen hat sich infolge der Absicht der Regierung es als Teil der Justizreform einzuschränken in Israel eine öffentliche Diskussion zum Konzept der „Angemessenheit“ entwickelt. Leider sind viele irrige sowie absichtlich falsche Behauptungen aufgestellt worden. Daher ist es wichtig die Geschichte des „Angemessenheits“-Konzepts zu verstehen und warum es entscheidend ist, seinen Umfang  zu begreifen.

Das Konzept der „Angemessenheit“ im israelischen Rechtssystem hat mehrere Verwandlungen durchlaufen, was es zu einem politischen Mittel gemacht hat, das dem exklusiven Ermessen der israelischen Richter unterliegt. Es handelt sich um eine Doktrin, die von Aharon Barak, Richter am Obersten Gerichtshof, als Teil dessen geschaffen wurde, was heute als die „Verfassungsrevolution“ bezeichnet wird und hat keine Grundlage im israelischen Gesetz oder öffentlichem Diskurs.

Die Ursprünge der Angemessenheits-Doktrin

Das israelische Rechtssystem hat das Konzept der „Angemessenheit“ aus der britischen Rechtstradition geerbt. Es erlaubt dem Gericht eine von der Regierungsobrigkeit gefällte Entscheidung – von lokalen Gremien bis zu Regierungsentscheidungen – aufzuheben, wenn sie als bis zu dem Punkt extrem unangemessen erachtet werden, dass kein vernünftiger Mensch eine solche Entscheidung getroffen hätte, „bis es unwahrscheinlich ist, dass eine vernünftige Obrigkeit die Entscheidung getroffen hätte“.

Dieses Prinzip wurde im berühmten britischen Fall von Associated Provincial Picture Houses Ltd. gegen die Wednesbury Corporation 1947 eingeführt, der als Leitprinzip für das Konzept der „Angemessenheitswahrscheinlichkeit“ betrachtet wird. Mit anderen Worten: Es beinhaltet eine Regierungsentscheidung, die so extrem und irrational ist, dass sie mit logischem Denken nicht erklärt werden kann, was nahelegt, dass die Entscheidungsträger entweder irrational oder von extremen und beispiellosen Motiven getrieben sind.

Bis in die 1980-erJahre übte der israelische Oberste Gerichtshof Zurückhaltung, verzichtete auf Eingriffe, in die der Regierungsobrigkeit anheimgestellten Entscheidungen, die einzig auf dem Konzept der „Angemessenheit“ gründeten. Stattdessen überprüfte es die Idee der „Angemessenheit“ als Teil der Doktrin, der ihm nur erlaubt in Fällen „extremen Mangels an Angemessenheit“ einzugreifen, wo die Regierung gegen die vom Volk gewährte Befugnis handelte. Diese „Vor-Verfassungsrevolutionsgerichte“ glaubten, sie sollten Urteile der gewählten Vertreter nicht durch eigene ersetzen und handelten entsprechend.

Das Gerichtsurteil, das alles änderte

Der Wendepunkt kam mit einem berühmten Gerichtsurteil, das von Richter Aharon Barak vom Obersten Gerichtshof mit dem unschuldig klingenden Titel „Goldene Seiten“. In diesem Urteil führte Barak eine neue Theorie ein, die das Konzept der „Angemessenheit“ in eine unabhängige und einzigartige Form der Intervention umwandelte.

Barak argumentierte, dass das Gericht selbst dann, wenn eine Regierungsentscheidung innerhalb ihrer Zuständigkeit und auf Grundlage maßgeblicher Überlegungen getroffen wurde, sie infolge „substanzieller Unangemessenheit“ für ungültig erklären könne, wenn es glaubt, die Entscheidungsträger hätten die Balance zwischen den verschiedenen Interessen und Faktoren nicht angemessen abgewogen. Mit anderen Worten: Richter Barak ermächtigte das Gericht die Beurteilung der Regierung durch sein eigenes Urteil zu ersetzen und handelte entsprechend.

Frühe Kritik an Baraks „Angemessenheits“-Doktrin

Dieser Schritt war radikal und beispiellos und damals war der Oberste Richter Mosche Landau dagegen. Er schrieb in seinem Minderheitsvotum: „Die Hauptgefahr, die ich sehe, ist die, dass der Begriff der ‚Angemessenheit‘ regelmäßig dazu benutzt werden wird eine objektive Maßnahme zu bestimmen.“ Laut Landau würde Baraks Vorschlag Regierungsentscheidungen einer erneuerten Überprüfung unterziehen, „als würde das Gericht eine Neuanhörung zur Richtigkeit des Beschlusses durchführen“, was ein Verfahren schaffen würde, in dem das Gericht selbst in die Rationalität und Effektivität der Verwaltungsentscheidungen der Regierung eingreift.

Landau hatte – zurecht – die Sorge, dass die Übernahme von Baraks Theorie in Bezug auf die „Angemessenheit“ dazu führen wird, dass das Gericht seine legitimen Befugnisse überschreitet. Diese Sorge wurde auch von Richter Solberg geteilt, der sagte, die „Angemessenheits“-Doktrin „ermächtigt das Gericht unmäßig und selbst in Bezug auf nicht gesetzliche Aspekte des Ermessensspielraums der Regierung einzugreifen… Mit anderen Worten: Das Gericht überschreitet die natürliche Rolle, die es erfüllen soll und greift übermäßig in den Bereich der Exekutive ein.“

Diese Kritik wurde auch vom früheren Richter am Obersten Gerichtshof Ascher Gronis bestätigt, der behauptete, dass Baraks Verwendung des Konzepts der „Angemessenheit“ lediglich ein Vorwand für Meinungsverschiedenheiten mit dem Ausgang“ von Regierungsbeschlüssen sei und keine echten juristischen Bedenken beinhaltet.

„Angemessenheit“ – eine politische Waffe für den Obersten Gerichtshof

Wenn ein aktivistischer Oberster Gerichtshof über seine Urteile neue Grundrechte schafft, dann nimmt seine Macht gegenüber früher immer weiter zu. Über eine lange Liste an Fällen, in denen der israelische Oberste Gerichtshof die „Angemessenheits“-Doktrin einsetzt, um Regierungsbeschlüsse zu annullieren, wird offenkundig, dass das Gericht auf politischer Grundlage statt strikter juristischer Begründungen sein eigenes politischen Denken anwendet.

Hier ist eine unvollständige Liste von Fällen, bei denen die Gerichte das „Angemessenheits“-Konzept verwendeten:

  1. Es wurde verwendet, um während der zweiten Intifada die Ausweisung von Terroristen in den Gazastreifen zu verbieten.
  2. Es führte die den Flüchtlingsstatus für afrikanische Infiltratoren ein, die aus Ländern kamen, wo weibliche Genitalverstümmelung praktiziert wird.
  3. Damit wurde der Bildungsminister gezwungen den „Israelpreis“ einem BDS-Anhänger zu verleihen.
  4. Es wurde ein Beschluss des Israel-Filmrats aufgehoben die Vorführung des Films „Jenin, Jenin“ zu verbieten, der Verleumdungen gegen IDF-Soldaten verbreitete.
  5. Damit wurde die Entscheidung des Innenministers aufgehoben, dass die BDS-Aktivistin Lara Alqasem nicht nach Israel einreisen darf.
  6. Der Beschlusses des Verteidigungsministers wurde aufgehoben, Familien von Terroristen die Einreise aus Judäa und Samaria zu verweigern, die an einer Veranstaltung des alternativen Gedenktags teilzunehmen.
  7. Der Wissenschaftsminister wurde gezwungen einen prominenten Professor zu ernennen, der Kriegsdienstverweigerer unterstützte, damit die in hohe Regierungsämter kommen.
  8. Dem Justizminister Amir Ohana wurde verboten  die Anwältin Orli Ben Ari zur geschäftsführenden Staatsanwältin im Büro des Generalstaatsanwalts zu ernennen.
  9. Die Regierung Israels wurde verpflichtet u.a. in Panzerungen für Gemeinden im Umfeld des Gazastreifens zu investieren

Wer diese unvollständige Liste liest, wird leicht verstehen, dass „Angemessenheit“ nichts mit juristischen Überlegungen zu tun hat; stattdessen ist es eine Möglichkeit extremen juristischen Aktivismus schönzureden. Es gibt an keiner der Entscheidungen oben etwas Extremes, das nicht über reguläre logische Mittel erklärt werden kann. Für jede gibt es eine vernünftige Logik und selbst eine Mehrheit der Öffentlichkeit unterstützt sie.

Die „Angemessenheits“-Doktrin zu reformieren reicht nicht aus

Unter dem Vorwand der „Angemessenheit“ haben die israelischen Gerichte ihre Befugnisse überschritten, in Entscheidungen linker wie rechter Regierungen eingegriffen und die Gewaltenteilung ernsthaft untergraben. Die Machtbalance zwischen den Zweigen der Regierung ist entscheidend und drängend und das Konzept der „Angemessenheit“ zu reformieren ist ein unerlässlicher Schritt.

Dessen ungeachtet ist es wichtig klarzustellen, dass trotz der Bedeutung und Dringlichkeit das Konzept der „Angemessenheit“ zu reformieren allein keine Probleme lösen wird. Damit dieser erste Schritt in der Justizreform ihr Ziel erreicht, ist es notwendig, Richter zu ernennen, die das Recht entsprechend der Absicht der Abgeordneten respektieren und umsetzen, statt sie entsprechend ihrer persönlichen Ansichten zu interpretieren. Daher ist es entscheidend das Komitee zu reformieren, das Richter ernennt, damit Richter ausgewählt werden, die die Werte der allgemeinen Öffentlichkeit widerspiegeln und das Gesetz respektieren. Das ist unerlässlich und bildet den Kern der Bemühungen Israel demokratischer zu machen.

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