- von Roland M. Horn
“Die Israelis werden der Linken nie verzeihen oder vergessen, dass sie die Geiseln als Waffen benutzt hat, um die Drecksarbeit für die Hamas zu erledigen”,
schreibt Melanie Philipps am 6. September 2024. Wie sie weiter ausführt, könnten die großen Demonstrationen in Israel gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu im Ausland den Eindruck erwecken, dass die Öffentlichkeit aufgrund seiner Kriegsführung generell gegen ihn sei und seine Tage ihm Amt gezählt seien. Sie hält es jedoch für wahrscheinlicher, “dass die israelische Linke dabei ist, sich ein für alle Mal selbst zu zerstören.”
Vollkommen nachvollziehbarer Weise schreibt sie, dass die Israelis – bedingt durch die Trauer und das Entsetzen über das unfassbare Schicksal der Geiseln – die seit 10/7 noch immer von der Hamas in “Höllenlöchern” in gefangengehalten werden – immer wütender. Die kürzlich stattgefundene Ermordung von sechs dieser Geiseln durch die Terrorgruppe habe viele Israelis endgültig aus der Bahn geworfen. Philipps stellt fest:
“Die Forderung der Demonstranten nach einem sofortigen Waffenstillstand zur Freilassung der Geiseln ist nicht nur lächerlich, sondern geradezu wahnsinnig und stellt eine direkte Bedrohung für die Sicherheit und sogar die Existenz Israels dar – genau das Ergebnis, das die Hamas mit ihrer teuflischen Manipulation der Notlage der Geiseln beabsichtigt.”
Wie sie weiter erkennt, werden die Demonstranten von diversen Militär- und Geheimdienstkreisen unterstützt, deren Ziel es ist, Netanjahu mit Hilfe von Spaltung und Demoralisierung aus dem Amt zu hebeln, während gleichzeitig Israel ums Überleben kämpft. Diese Leute behaupten, dass Netanjahu den Krieg verlängert und die Geiseln zum Tode verurteilt und dass nur, um die Extremisten in der Regierungskoalition zu beschwichtigen und dadurch an der Macht zu bleiben.
Philipps stellt fest, dass Netanjahus Gegner nicht verstehen, dass seine Kriegspolitik – selbst wenn der Premierminister tatsächlich so opportunistisch sei, wie es dargestellt wird – von einer überwiegenden Mehrheit der Öffentlichkeit unterstützt wird.
Tatsächlich aber besteht die Mehrheit der Israelis, wie Philipps weiter feststellt, darauf, die Hamas ein für mal zu besiegen. “Nach den Terroranschlägen und Gräueltaten vom 7. Oktober in den jüdischen Gemeinden im Süden forderten sie, dass Israel sich nie wieder damit zufrieden geben dürfe, der Hamas immer wieder ‘schwere Schläge’ zu versetzen, nur um innerhalb weniger Monate ihre mörderischen Offensiven wieder aufzunehmen.”
Es ist keine Frage, dass alle wollen, dass die Geiseln nach Hause zurückkommen, doch die Vorstellung, dass dies mit dem Waffenstillstandsabkommen erreicht werden könnte, ist – wie die Autorin vollkommen zu Recht diagnostiziert – “reine Phantasie”.
Philipps führt weiter aus, dass in der ersten Phase dieses Waffenstillstandsabkommens nur einige der Geiseln freigelassen würden und die Hamas die Waffenstillstand nutzen würde, um sich neu zu formieren und zu bewaffnen und weiter die andauernde Verhandlungsfarce in die Länge zu ziehen. Dabei würden sie den Rest der Geiseln weiter festhalten und gleichzeitig die Kontrolle über den Gazastreifen behalten, wie sie weiter messerscharf erkennt.
Die Freilassung aller Geiseln würde – wenn überhaupt – nur im Fall einer vollständigen Kapitulation des jüdischen Staates erfolgen. “Das ist es, was diejenigen, die einen sofortigen Waffenstillstand fordern, eigentlich befürworten.”
Der einzige Weg, die Geiseln zu retten ist aber – wie sie weiter vollkommen zu Recht erkennt – militärischer Druck, und genau das ist einer der Gründe, warum es für Israel so wichtig ist, die Kontrolle über den Philadelphi-Korridor – jenen Teil des Gazastreifens, der an Ägypten grenzt – zu behalten.
“Die Bedeutung dieses Korridors kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die israelische Eroberung des Korridors hat tief unter der Oberfläche eine ausgedehnte Infrastruktur riesiger Tunnel nach Ägypten freigelegt und damit die Hauptroute aufgedeckt, über die die Hamas ihre Raketen, Raketenwerfer, Fahrzeuge und Munition importiert.”,
sagt sie weiter und:
“Die Hamas muss Philadelphi kontrollieren, um sich selbst versorgen zu können. Ohne diese Kontrolle ist sie am Ende. Deshalb besteht sie darauf, dass es kein Abkommen geben wird, solange Israel die Kontrolle behält.”
Wie Philipps weiter feststellt, besteht die große Mehrheit der Militärs und der Sicherheitsbeamten, die dem Israel Defense and Security Forum angehören, darauf, dass Israel die Kontrolle über den Korridor auf keinen Fall aufgeben darf. In der Woche vor der Veröffentlichung von Philipps Artikel sagte Amir Avivi, der Vorsitzende dieses Forums, dass zehntausenden von Raketen und Tausende von Nuchba-Terroristen – einer Spezialeinheit der Hamas – nur darauf warten, durch den Korridor nach Israel einzudringen.
“Selbst wenn Israel sich nur kurz zurückziehen würde, könnten diese Truppen und ihre Ausrüstung innerhalb einer Woche nach Gaza gebracht werden. Ägypten habe mit dem Schmuggel nach Gaza Milliarden verdient und wolle damit weitermachen“,
und weiter stellt Avivi fest, dass in der ersten Phase des Abkommens nur 30 von über 100 Geiseln freigelassen würden, die anderen würde die Hamas durch den Philadelphi-Tunnel in den Sinai und anschließend in den Iran zu bringen.
Dieser Tunnel wurde jetzt zu einer Waffe gegen Nethanjahu, dem vorgeworfen wurde, dass er seine Bedeutung übertrieben habe, um ein Waffenstillstandsabkommen zu hintertreiben und die Rückkehr der Geiseln zu verhindern, stellt die Autorin weiter fest.
Der israelische Verteidigungsminister Yoav Galant soll in einer Kabinettsdebatte über Sicherheitsfragen gesagt haben, dass der Philadelphi-Korridor eine “unnötige Einschränkung, die wir uns selbst auferlegt haben” sei und gleichzeitig habe der ehemalige Generalstabschef der israelischen Streitkräfte ihn als “strategisch unwichtig” bezeichnet. Der ehemalige Verteidigungsminister Benny Gantz äußerte, dass Israel – sobald die Geiseln frei sind – ja zum Korridor zurückkehren könne, sollte dies für notwendig erachtet werden.
Es wurde die Idee vorgebracht, “Ägypten dazu zu bringen, Philadelphi vor der Hamas zu schützen und elektronische Sensoren zur Überwachung einzusetzen”, doch Philipps erkennt:
“All das ist völlig illusorisch. Ägypten war zwei Jahrzehnte lang am Bau und an der Nutzung des Philadelphi-Tunnels beteiligt; es mit der Sicherheit Israels zu betrauen, hieße, den Bock zum Gärtner zu machen. Die Abhängigkeit Israels von elektronischen Sensoren war einer der Gründe für das Pogrom vom 7. Oktober.”
Auch der ehemalige Premierminister Ariel Sharon habe – hinsichtlich einer Rückkehr der israelischen Streitkräfte in den Korridor nach ihrem Rückzug – ebendieses Argument verwendet, als er im Jahr 2005, als Israel aus dem Gazastreifen abzog – eben jenen Gegenstand, der Netanjahu zum Rücktritt aus der Regierung veranlasste. Ebenso wie der internationale Druck die IDF dazu gebracht hat, trotz der Angriffe auf Gaza, die darauf erfolgten, nie wieder in den Korridor zurückzukehren, wäre – wie Philipps richtigerweise feststellt – eine Rückkehr zum Korridor auch jetzt ein vollkommener Fehlschlag.
Den Tausenden von Demonstranten auf der Straße zum Trotz, würden die meisten Israelis dies verstehen sagt Philipps und belegt dieser mit einer Meinungsumfrage, derzufolge 79 Prozent der Befragten dafür stimmten, dass Israel Philadelphi dauerhaft kontrollieren müsse, um den Waffenschmuggel von Ägypten nach Gaza zu unterbinden. Auf die etwas emotionalere Frage, ob denn Israel den Grenzübergang Philadelphi “auch um den Preis von Geiseln” kontrollieren solle, antwortete die Mehrheit der Befragten mit “ja”.
Philipps stellt fest, dass Gantz, Eisenkot und Galant Teil eines Militär- und Sicherheitsapparates seien, “dessen moralisch und intellektuell bankrotte ‘Konzeption‘ die Katastrophe vom 7. Oktober überhaupt erst herbeigeführt hat.”
Es kann nicht geleugnet werden, dass auch Nethanjahu zu diesem Apparat gehörte und Philipps zeigt sich überzeugt davon, dass auch er “zu gegebener Zeit für die schwere Verantwortung, die er trägt, zur Rechenschaft gezogen werden müsse”.
Philipps stellt weiter fest:
“Aber wer nicht von krankhaftem Hass gegen ihn geblendet ist, kann sehen, dass er dem starken amerikanischen Druck, sich aus Philadelphi zurückzuziehen, widerstanden hat, genauso wie man sehen kann, dass Amerika selbst einen erheblichen Teil der Verantwortung für das Schicksal der Geiseln trägt.”
Philipps ist auch nicht entgangen, dass die Biden-Administration Israel dazu zwang, in Gaza westlich langsamer vorzugehen, als die IDF es für notwendig heilt, um die Hamas zu besiegen und damit eben auch die Geiseln zu retten. Noch schlimmer: Drei Monate lang hinderte die US-Regierung den jüdischen Staat daran, Rafah einzunehmen, wo die sechs Geiseln in der Woche vor Veröffentlichung von Philipps Artikel ermordet wurden. “Hätte Israel in seinem eigenen Tempo vorgehen können, wären diese sechs Geiseln und viele andere vielleicht gerettet worden.”
Ob nun Netanjahu im Amt bleibt oder nicht, die Linke würde mit ziemlicher Sicherheit feststellen, dass sie zum zweiten Mal einen schrecklichen strategischen Fehler begangen hat, meint Philipps und diesen Gedankengang kann man durchaus nachvollziehen.
Die Autorin kommt weiter auf der ersten Fehler dieser Art zu sprechen: Das Oslo-Abkommen von 1993, dass den “Palästinensern” politische Macht sowie einen politischen Status gab, wobei die USA sogar deren Polizei ausbildeten, in der (wohl falschen) Annahme, dass sie in Frieden neben Israel leben wollten.
Es war – wie Philipps weiter ausführt – die katastrophale “Konzeption” von Oslo, die letztlich dazu führte, dass die israelischen Eliten, die Beweise für den islamischen Heiligen Krieg der “Palästinenser” – die eindeutig waren – schlicht ignorierten, in der irrigen Annahme, dass Israel potentielle Probleme unter Kontrolle halten könne. Sie waren davon überzeugt, dass ihr Feind nicht die völkermordenden “Palästinenser” seien, sondern eben Nethanjahu.
Philipps schließt mit den Worten:
“Das ist auch der Grund, warum sie den größten Teil des letzten Jahres damit verbracht haben, gegen die Justizreform zu kämpfen. Und dieselben Leute benutzen jetzt die Geiseln auf widerwärtige Weise für das gleiche Ziel – um Netanjahu aus dem Amt zu jagen. Man muss kein Fan von Netanjahu sein, um sich angewidert, verängstigt und wütend zu fühlen.
Der Alptraum von Oslo hat dazu geführt, dass die Linke keine Chance mehr hat, an die Macht zu kommen. Die Abscheu und Wut der Öffentlichkeit darüber, dass dieselben Leute die Arbeit der Hamas verrichten, indem sie die Kapitulation Israels fördern, bedeutet, dass dieser schreckliche Verrat nicht vergessen oder vergeben wird. Das wird der Oslo-Effekt auf Steroiden sein.”