(zum Beitragsbild oben: Von Beivushtang aus der englischsprachigen Wikipedia, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4607575)
Mitten in den Vorbereitungen auf Netanyahus Besuch bei Donald Trump fordern führende Minister der Likud-Partei die historische Entscheidung: Die vollständige Anwendung israelischen Rechts in Judäa und Samaria. Es geht nicht nur um Politik – es geht um Israels Zukunft.
Es ist ein politisches Signal mit Sprengkraft – und ein Moment, den viele in der Regierungspartei Likud seit Jahren herbeisehnen. In einer entschlossenen Petition haben mehr als ein Dutzend Minister und die Spitze der Knesset Ministerpräsident Benjamin Netanyahu aufgefordert, noch vor Ende der Sommerpause israelisches Recht auf alle Teile Judäas und Samarias – international oft als „Westjordanland“ bezeichnet – auszuweiten.
Der Zeitpunkt ist kein Zufall: In wenigen Wochen reist Netanyahu zu einem bilateralen Spitzentreffen mit US-Präsident Donald Trump nach Washington. Und für viele im Likud ist nun der Moment gekommen, ein jahrzehntelanges Projekt zu vollenden – mit Rückendeckung aus den USA.
„Siedlungsblöcke“ sind keine Sicherheitsstrategie mehr
Der Appell der Minister ist deutlich: „Das Massaker vom 7. Oktober hat bewiesen, dass das Konzept von Siedlungsblöcken und die Illusion eines palästinensischen Staates in den verbleibenden Gebieten ein existenzielles Risiko für Israel darstellen.“ In der nüchternen Sprache einer Petition klingt es wie eine strategische Analyse – aber zwischen den Zeilen ist es eine politische Anklage: Die seit Oslo gepflegte Idee eines palästinensischen Staates sei gescheitert, ja gefährlich. Die Konsequenz? „Jetzt ist die Zeit für Souveränität.“
Die Liste der Unterzeichner liest sich wie das „Who’s who“ der israelischen Politik: Verteidigungsminister Israel Katz, Justizminister Yariv Levin, Transportministerin Miri Regev, Bildungsminister Yoav Kisch, sowie zahlreiche weitere Regierungsmitglieder. Nur ein prominenter Name fehlt: Ron Dermer, der derzeit in Washington über die Zukunft Gazas und Irans Einfluss verhandelt. Dass er nicht unterzeichnet hat, wird in Jerusalem mit diplomatischer Rücksicht erklärt – nicht mit politischem Widerspruch.
Ein geopolitisches Zeitfenster – mit Trumps Rückhalt
Die Initiative der Minister zielt nicht nur auf innenpolitische Entscheidungen – sie nutzt das geopolitische Momentum. Denn Donald Trump, der aktuell in den USA erneut im Wahlkampfmodus ist, hat in seiner zweiten Amtszeit bereits mehrfach signalisiert, dass er der Zwei-Staaten-Lösung nicht mehr verpflichtet sei. Sein Botschafter in Israel, Mike Huckabee, sprach Anfang Juni offen davon, dass ein palästinensischer Staat „nicht länger US-Politik“ sei. Ein Kurswechsel, der in Jerusalem mit offenen Armen aufgenommen wird.
ür Netanyahu ist das eine historische Chance – aber auch eine heikle Gratwanderung. Innenpolitisch wächst der Druck, insbesondere von rechts. Außenpolitisch aber muss er geschickt manövrieren, um den Segen aus Washington nicht zu verlieren – und keine Eskalation mit Europas Regierungen zu provozieren.
Der 7. Oktober als Wendepunkt
Inhaltlich stützt sich die Petition auf ein kollektives Trauma: das Terrormassaker vom 7. Oktober 2023. Für die Unterzeichner war es nicht nur ein Angriff auf israelische Bürger, sondern das Scheitern eines politischen Paradigmas. Die Annahme, dass durch begrenzte Autonomien und Rückzüge Sicherheit erreicht werden könne, sei naiv gewesen. Die Terroristen kamen nicht wegen eines Mangels an Staatlichkeit, so die implizite Botschaft – sondern trotz aller Zugeständnisse.
Diese Lesart macht aus einem Sicherheitsereignis eine politische Zäsur. Und sie liefert die moralische Legitimation für einen Schritt, den die internationale Gemeinschaft als Annexion bezeichnen würde – den die Unterzeichner aber als historische Wiederherstellung von Recht und Ordnung sehen.
Widerstand? Ja. Aber keine Entschlossenheit
Klar ist: Ein solcher Schritt wird international nicht ohne Folgen bleiben. Die EU dürfte mit scharfer Kritik reagieren, auch aus Teilen der arabischen Welt ist Widerspruch programmiert. Doch in der derzeitigen geopolitischen Lage – mit einem zurückgedrängten Iran, einem neutralisierten Gaza und einem potenziellen Strategiewechsel in Washington – sehen viele im Likud genau jetzt das strategische Fenster, das sich möglicherweise nicht noch einmal öffnet.
Und selbst innerhalb Israels, wo in der Vergangenheit selbst rechte Regierungen vor dem vollständigen Souveränitätsanspruch zurückgeschreckt sind, herrscht nun ein anderer Ton. Der Gedanke an eine Teilung des Landes wirkt für viele nicht mehr pragmatisch, sondern gefährlich. Und das ist neu.
Israel steht vor einer historischen Weichenstellung
Ob Netanyahu dem Druck nachgibt, bleibt offen. Doch die Botschaft seiner Minister ist klar: Wer jetzt zögert, verliert. Für sie ist der Weg zur Sicherheit nicht mehr der Weg des Kompromisses – sondern der des klaren Anspruchs. Souveränität über Judäa und Samaria ist für sie kein ideologisches Ziel mehr, sondern eine sicherheitspolitische Notwendigkeit.
Was in Europa als Provokation empfunden werden mag, empfinden in Israel viele als Selbstbehauptung. Und wer wissen will, wie ernst es der israelischen Rechten ist, der sollte die Petition nicht als Papierkram abtun. Sondern als Fahrplan für eine mögliche historische Entscheidung – noch in diesem Sommer.