Antisemitismus durch Missbrauch des Holocaust

* von Manfred Gerstenfeld

Viele aktuelle Themen sind höchst fragmentiert. Das ist ein Charakteristikum unserer Zeit, eine Periode, die oft als Postmoderne bezeichnet wird. In Übereinstimmung damit ist auch der Antisemitismus in viele Unterthemen zersplittert. Einen Überblick über diese Explosion des Hasses zu bekommen wird daher weit schwieriger als in der Vergangenheit, als der klassische Antisemitismus sich auf die Juden als Anhänger einer Religion ab dem 19. Jahrhundert als Volk konzentrierte.

Eine Menge des zeitgenössischen Antisemitismus richtet sich gegen Israel. Das heißt jedoch nicht, dass es keine neuen Entwicklungen im klassischen Antisemitismus gegeben hat. Viele wichtige davon betreffen den Holocaust und seine Geschichte.

Die Entstellung, die die meiste öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, ist Holocaust-Leugnung. Sie kann unterschiedliche Formen annehmen. Eine falsche Behauptung lautet, dass die Deutschen keine Gaskammern einsetzten, um Menschen zu töten. Diese Äußerung wird recht oft von einer falschen Behauptung begleitet, dass die Mehrheit der Juden während des Zweiten Weltkriegs aufgrund von in Lagern zugezogenen Krankheiten gestorben sei. Holocaust-Minimierung behauptet, dass weit weniger als 6 Millionen Juden ermordet wurden.

Eine Entstellung anderer Art ist Ablenkung vom Holocaust. Täternationen oder Einzelne könnten zugeben, dass der Holocaust stattfand, aber dennoch ihre Komplizenschaft oder die Verantwortung bestimmter Gruppen oder Einzelpersonen bestreiten. Mit anderen Worten: Sie machen für den Holocaust andere verantwortlich. Zum Beispiel bestritt die polnische Obrigkeit den Holocaust nicht. Trotzdem gab es in dem Land einen zähen Kampf gegen die Behauptung, dass Polen viele Juden töteten oder gar, dass sie im Zweiten Weltkrieg mehr Juden töteten als die Deutschen.1https://www.timesofisrael.com/complicity-of-poles-in-the-deaths-of-jews-is-highly-underestimated-scholars-say/ Die Stadt Jedwabne, wo die Einwohner fast alle Juden ohne Intervention der Deutschen ermordeten, ist ein wichtiges Symbol polnischer Beteiligung am Holocaust geworden.2https://www.cbsnews.com/news/new-book-on-killing-of-jews-in-poland-exposes-raw-nerve/

Eine andere Art Holocaust-Entstellung ist die Entjudung. Diese besteht aus einer Vielzahl an Erinnerungsmanipulationen. Das kann zum Beispiel durch Minimierung des jüdischen Merkmals der Opfer gemacht werden. Die Sowjetunion machte es zur Politik den Holocaust zu entjuden, indem die jüdischen in die vielen lokalen Opfer einbezogen wurden. Der Tatsache, dass sie ermordet wurden, weil sie Juden waren, wurde keine Aufmerksamkeit geschenkt. Eine weitere Unterkategorie dieser Holocaust-Entstellung ist die Erweiterung des Holocaust, um viele andere Menschen außer die Juden einzuschließen, die im Zweiten Weltkrieg ermordet wurden oder starben. Die Taten an bestimmten anderen Gruppen hatten in der Tat Völkermord-Charakter, hatten jedoch nicht ihre systematische und totale Vernichtung zum Ziel.

Eine weitere Entstellung kann bestenfalls als Holocaust-Äquivalenz bezeichnet werden. Vorkriegs- und Kriegszeit-Holocaust-Äquivalenz gründen auf dem Vorwurf, deutsches völkermörderisches Verhalten während des Zweiten Weltkriegs sei ähnlich dem anderer Staaten vor und während des Krieges. Diejenigen, die diese Verzerrung vornehmen, wollen hauptsächlich deutsche Verbrechen reinwaschen oder abschwächen.

Die Nachkriegsvariante von Holocaust-Äquivalenz basiert auf der Behauptung, dass es in den vergangenen Jahrzehnten viele Ereignisse gab, die von ihrer Natur her den von Deutschland unter Hitlers Herrschaft begangenen ähnlich oder äquivalent sind. Ein Aspekt dieser weitgehenden, in hohem Maße falschen Behauptung besteht darin, dass Nationalsozialismus und Kommunismus austauschbar seien. Online-Äußerungen, die Personen mit Hitler gleichsetzen, fallen ebenfalls in diese Kategorie. In den letzen Jahrzehnten haben extreme Gegner manchmal amerikanische Präsidenten mit dem deutschen Führer verglichen. Das trifft auch auf Präsident Donald Trump zu.3https://www.theguardian.com/australia-news/2019/jul/23/qa-alastair-campbell-compares-donald-trump-to-hitler

Gemeinhin wird geglaubt, dass die schlimmste Art der Holocaust-Entstellung die Holocaust-Leugnung sei. Es gibt allerdings eine noch üblere Variante. Sie kann am besten als Holocaust-Umkehr bezeichnet werden. Diese Art des Missbrauchs entstammt der Holocaust-Äquivalenz, richtet sich aber besonders gegen Juden und Israel. Holocaust-Umkehrer behaupten oft, dass Israel sich den Palästinensern gegenüber auf dieselbe Weise verhält, wie die Deutschen sich im Zweiten Weltkrieg gegenüber den Juden verhielten.

Eine in einer Reihe von EU-Ländern durchgeführte Meinungsumfrage wollte wissen, ob die Israelis vorhaben die Palästinenser auszulöschen; es wurde festgestellt, dass 150 Millionen von 400 Millionen Erwachsenen in der EU das bejahten.4https://library.fes.de/pdf-files/do/07908-20110311.pdf Das sind fanatisch antisemitische Meinungen. Es demonstriert zudem, dass die über tausend Jahre alte Verflechtung von Antisemitismus mit der europäischen Kultur sich in einer zeitgenössisch mutierten Form manifestiert. Diese scheinbar widersprüchlichen Kategorien von Holocaust-Leugnung und Holocaust-Umkehr sind in der arabischen Welt manchmal sogar gemeinsam zu finden.

Ein weiterer Typ der Holocaust-Entstellung ist Trivialisierung. Das ist ein Mittel für ideologisch oder politisch motivierte Aktivisten, um eine Gleichsetzung von ihnen abgelehnten Phänomenen mit der Vernichtung von Juden in industriellem Maß durch die Deutschen und ihren Verbündeten im Zweiten Weltkrieg vorzunehmen. Regelmäßig ist vom „Tier-Holocaust“ zu hören. Hier wird die industrielle Schlachtung von Tieren mit dem Völkermord an den Juden gleichgesetzt. Dann gibt es zum Beispiel noch den „Klima-Holocaust“, der „Atom-Holocaust und den „Abtreibungs-Holocaust“.

Holocaust-Trivialisierung manifestiert sich zudem in seiner zunehmenden Einfügung in eine große Zahl grundverschiedener Ereignisse, die keine Verbindung zu dem Völkermord an den Juden haben. Andere Trivialisierer agieren aufgrund von kommerziellen oder künstlerischen Überlegungen oder aus dem Wunsch heraus Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen oder sogar zu provozieren. Ein aktueller Fall war die vom linken Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) installierte Säule vor dem deutschen Parlament in Berlin. Die Initiatoren behaupteten, darin habe sich Asche von Holocaust-Opfern befunden.5https://www.tagesspiegel.de/berlin/zentrum-fuer-politische-schoenheit-polizei-stoppt-abbau-der-saeule-vor-dem-reichstag/25389204.html

Noch eine allgemeine Kategorie der Holocaust-Entstellung kann am besten als „Auslöschung der Holocaust-Erinnerung“ bezeichnet werden. Dazu können Taten wie das Besudeln oder die Zerstörung von Mahnmalen oder die Störung von Holocaust-Gedenkfeiern gehören. Im Januar 2020 veröffentlichte die PA-Tageszeitung ‚Al-Hayat al-Jadida‘ einen Kommentar, der die Leser aufrief Morde zu begehen, um die Veranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz zu stoppen.6https://jpost.com/Israel-News/PA-newspaper-One-murder-can-prevent-Holocaust-remembrance-event-614621

Eine weitere Auslöschungs-Aktivität ist der Versuch aus Holocaust-Gedenkfeiern in allgemeine Gedenkfeiern zu machen. Eine weitere Manifestation des Versuchs Holocaust-Gedenken auszulöschen ist „Holocaust-Dämpfung“. Das besteht daraus zu erklären, dass Juden zu oft über den Holocaust reden. Eine weitere Form davon ist die Behauptung, dass Juden den Holocaust für verschiedene Zwecke missbrauchen. Es gibt zudem indirekte Angriffe auf Holocaust-Erinnerung, die jüdische Gedenkstätten involvieren. Ein Beispiel ist die Beseitigung jüdischer Friedhöfe an verschiedenen Orten.

Die große Vielzahl der oben angeführten Liste sollte uns eine weitere Lektion erteilen, die nicht damit zusammenhängt. Es gibt ein starkes Bedürfnis nach einer enormen Ausweitung des Antisemitismus-Forschung. Worauf oben hingewiesen wird, ist einfach ein Bereich des sehr facettenreichen Hasses auf Juden und Israel.

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